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Jenseits von Wissen, Können und Reagieren

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie gehen Sie mit Ungewissheit um?

Als ich mich mit dieser Frage für die Kolumne konkret beschäftigte, kamen mir zunächst Gedanken, die ich in früheren Beiträgen bereits angesprochen hatte. Ich habe an die Chancen gedacht, die im Ungewissen liegen, an den Freiheitsaspekt und an das Abenteuer. Alles nicht falsch, aber irgendwie doch auch nur ein Ausschnitt aus dem, was Lebenswirklichkeit ausmacht. Und die Lebenswirklichkeit ist für jeden Menschen anders. Für einige ist sie auch sehr anders.

Ich habe daher die Frage nach der Bedeutung der Ungewissheit an Yvonne Weindel gestellt. Yvonne ist seit zwölf Jahren an ALS erkrankt und seit vielen Jahren fast vollständig gelähmt. Yvonne und ich haben uns kennengelernt, als wir neun Jahre alt waren und sie nach den Sommerferien zu uns in die vierte Klasse kam. Wie viele andere Jungs in meiner Klasse habe ich mich damals gleich Hals über Kopf in sie verliebt und hatte jedes Mal Herzklopfen, wenn ich in ihrer Nähe war. Nach der Schulzeit verloren wir uns aus den Augen. Ich erfuhr erst wieder von ihr, als ich in der Zeitung einen Artikel von ihr las, in dem sie über ihre ALS-Diagnose schrieb. So nahm ich wieder Kontakt zu ihr auf und aus dem Austausch wurde eine tiefe Freundschaft. Seitdem schreiben wir uns, und wenn ich auf meinen Geschäftsreisen in ihrer Nähe bin, mache ich einen Zwischenstopp und setze mich zu ihr ans Bett. Sie schreibt mit ihren Augen auf dem Sprachcomputer und wir kommen in einen bedächtigen Dialog, in dem das Wesentliche im Vordergrund steht, weil für das Unwesentliche die Zeit und oft auch die Kraft nicht reicht.

Als ich Yvonne fragte, ob sie für uns ihre Gedanken zur Ungewissheit ausformulieren wolle, verfasste sie mit Augensteuerung den folgenden Text. Mich hat ihr Text sehr berührt, und es ist mir eine Ehre, ihn hier mit Ihnen teilen zu dürfen.

Herzlichst

Ihr Christoph Werner


Ungewissheit

Die Ärztin legt mir eine kleine Kartonschachtel in den Schoß: „Da sind alle Utensilien für den Gentest drin. Lassen Sie sich Blut abnehmen und schicken Sie die Schachtel wieder an uns zurück.“ Als mein Mann und mein Pfleger mich die Krankenhausgänge entlangschieben, bin ich noch fest entschlossen, den Gentest zu machen. Zu Hause angekommen, landet er erst mal im Regal, zwischen Desinfektionsmittel und Sondennahrung, und es huschen mir die ersten Zweifel durch den Kopf. Es war im Sommer vor zwölf Jahren, als man mir die Diagnose ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) servierte. Ich war Anfang vierzig, mit drei kleinen Kindern, einem Beruf, Elternalltag, gesund. Nur an meiner rechten Hand bewegten sich die Finger nicht mehr wie gewünscht: Sie wurden steif, dann schwach und immer schwächer. Plötzlich war es eine Mühe, die Kaffeetasse zu halten oder mir die Zähne zu putzen. Ich konnte nicht mehr schreiben oder Schulbrote schmieren. Heute liegt mein lebloser Körper im Bett, immer in der gleichen Position, ob Tag oder Nacht. Ich bin fast völlig gelähmt, werde künstlich ernährt und beatmet.

Die Pfleger saugen mich ab, dass ich nicht ersticke, sie schieben Windeln unter mich, geben mir Sondennahrung, kleben Fentanyl-Pflaster. Ich kann mich bestenfalls mit einem verzerrten Lächeln bedanken. Mein Körper ist kaputt, nichts geht mehr ohne fremde Hilfe oder Maschinen, die mich am Leben halten. Lebendig und beweglich ist nur noch mein Gehirn, mit ihm kann ich mich in Gedanken fortbewegen, träumen, erinnern. Die Prognose für ALS-Patienten liegt bei drei bis fünf Jahren, dann ist man im Schnitt tot. Die Marke habe ich schon überschritten und trotzdem schwebt dieses Damoklesschwert immer über uns: Werden wir Weihnachten noch zusammen feiern?

Jeder, der krank ist oder war, einen kranken Menschen begleitet oder unterstützt, kennt die Ungewissheit. Sie scheint der ständige Begleiter aller Kranken. Ein Gefühl, das so treffend unseren Zustand beschreibt: zwischen Bangen und Hoffen. Die Ungewissheit liegt genau dazwischen, und wir bewegen uns zwischen ihren Polen, mal düster und angstvoll, mal zuversichtlich und ergeben. Sie ist auf den ersten Blick kein angenehmes Gefühl, und die Situationen, die sie uns beschert, passen so gar nicht in eine Gesellschaft, die sich zur Leistung und Entschlossenheit bekennt. Wenn wir mit Ungewissheiten umgehen, müssen wir uns eingestehen, unsicher zu sein, keine Entscheidung treffen zu können, zu zweifeln.

Vielleicht warten wir auch auf einen besseren Moment, auf ein Zeichen, auf mehr Mut. Aber die Ungewissheit bietet uns auch eine Pause vom Wissen, Können, Reagieren. Sie entlässt uns in unser Schicksal, in die Demut, uns zu fügen und zu vertrauen. Keine leichte Sache. Auch ich habe die Ungewissheit erst als Kranke schätzen gelernt. Tage und Nächte, wo man nicht weiß, was morgen kommt, Panikattacken, Todesangst. Wer unheilbar krank ist, hat keine Kontrolle mehr über sein Leben und muss sich dem Ungewissen ergeben. Ja, das kann auch ein Geschenk sein, denn man lässt die Verantwortung los. Auf uns alle wartet dieser Moment, wenn wir sterben. Die Ungewissheit trainiert uns auf das Rätsel unserer Existenz.

Und die kleine Kartonschachtel mit dem Gentest – sie liegt seit einem Jahr im Regal. Der Test sollte Aufschluss über die ALS-Variante geben, an der ich erkrankt bin. Es gibt eine spontane und eine vererbte Variante, so könnte ich die Krankheit an meine Kinder weitergegeben haben. Das zu wissen, schien mir wichtig, aber letztendlich habe ich mich für die Ungewissheit entschieden. Denn welche Konsequenz ergibt sich aus dem Ergebnis? Wenn der Test positiv wäre, würde ich es meinen Kindern sagen, und mit welcher Prognose? Niemand weiß, wann und ob die Krankheit ausbricht. Vielleicht ist die Forschung in zwanzig Jahren auch so weit, neurodegenerative Erkrankungen zu heilen. Das beträfe nicht nur ALS, sondern auch Alzheimer oder Demenz. Soll ich also meine Familie mit einer Diagnose erschrecken, wo doch alles einem unbeherrschbaren Mysterium gleicht? Oder finden Sie mich feige, laufe ich vor der Wahrheit und meiner Pflicht davon, mache ich es mir zu bequem? Das ist die Kehrseite des Unsicheren, dass man die Augen schließt und die Entscheidung vertagt. Ich habe mich für das Ungewisse bewusst entschieden, auch mit dem Gefühl einer großen Dankbarkeit. Ich erzwinge nichts, ich fordere keinen Plan für meine Heilung. Ich lasse mich treiben, vertraue nur in den Fortgang unserer Schöpfung und wünsche meinen Kindern ein glückliches und gesundes Leben. Yvonne Weindel


Die Kolumne von Christoph Werner, Vorsitzender der dm-Geschäftsführung, erscheint jeden Monat im dm-Magazin alverde. Das Magazin ist in allen dm-Märkten erhältlich und auch online verfügbar.

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